Die letzte Fahrt der Barcosa
2023-01-10 (Tag 12)
- 1d6: 6 → Visionen
- 1d6+6: 12 → Du blickst in das wahre Gesicht einer Person auf dem Schiff. Welche Fratze starrt zurück?
- Unheilsuhr: ⬛⬛⬛⬛⬛⬛⬛ ⬛⬛⬛⬛⬛⬛ ⬛⬛⬛⬛⬛ +8 ⬜⬜⬜⬜ ⬜⬜⬜
- 1d6: 1: Warum weißt du, dass das Schiff dem Untergang geweiht ist?
Langsam habe ich das Gefühl, dass nicht nur niemand außer mir dieses Tagebuch lesen wird, sondern auch ich nicht. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir Java erreichen werden, wenn der Teufel selbst sich auf unserem Schiff aufhält? Bis jetzt dachte ich, all diese Visionen wären einfach schlechtes Essen und die merkwürdigen Ereignisse wären Zufälle, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Wenn es nicht an mir liegt, muss es doch an etwas anderem liegen. Und niemand glaubt mir. Ich meine, dass der Kapitän keine Zeit hat, sich meine merkwürdigen Geschichten anzuhören, ist eine Sache, aber auch alle anderen halten die Ereignisse entweder für Seemannsgarn oder fragen mich, was ich getrunken oder geraucht hätte und ob davon noch etwas übrig ist.
Heute früh ging ich zu Robin und erzählte ihr alles. Die toten Fische, das Rauschen in meinen Ohren, die Melodie in meinem Kopf, die flötenden Javaner, die Stimmen, die „ihr auch“ riefen, Jamie, der „ihr auch“ rief, Lauri, Jamies Würmer in seiner Hand, alles. Sie fragte erstmal im Plauderton, was ich über Lauris Verschwinden wüsste. Selbstverständlich gar nichts.
„Und was kann ich jetzt dagegen tun?“, fragte ich.
„Wogegen?“
Ich guckte sie leer an, bevor ich ein schwaches „alles?“ nachschob. Wenn sie jetzt mit Rum gekommen wäre, hätte ich geschrien, aber sie fing nur ruhig zu erklären an: „Es ist alles gut. Jeder hat mal Rauschen in den Ohren und jeder hört mal einen halben Tag lang eine gute Melodie. Mich hörst du doch auch andauernd summen. Und auf See ist es oft langweilig, da fängt der Geist an sich selbst zu bewegen und wir vermuten Zusammenhänge, wo keine sind. Genauso können Schatten unseren Augen einen Streich spielen. Besonders am Ende der Wache. Wenn du willst, erkläre ich dem Kapitän, dass du ein paar Tage Ruhe brauchst und du kannst dich in einer Kajüte einschließen und ausruhen.“
Ich lehnte dankend ab und machte mich aus dem Staub. Wobei, aus dem Staub machen ist die falsche Ausdrucksweise. Wer auf einem Schiff nichts zu tun hat, putzt. Wenn es auf einem Schiff Staub gibt, stimmt nicht. Ich wünschte, es gäbe hier Staub. Ich wünschte, es gäbe irgendeine Erklärung. Selbst, dass ich wahnsinnig werde, wäre besser als das, was ich befürchte.
Den Rest des Tages verbrachte ich mit dem Üblichen. Reparieren, bauen, tüfteln, Staub wischen …
Abends, die Sonne war gerade untergegangen, traf ich Jamie auf Deck, wo ich eine Zigarette rauchte und das Ende meiner Wache feierte.
„Du kannst nichts machen.“
„Was?“, fragte ich.
„Genau. Du kannst nichts machen. Keiner von uns kann etwas tun.“
„Wogegen?“
Er lächelte mich traurig und wissend zugleich an. Ich sah die Bewegungen unter seiner Gesichtshaut und in seinem Hals. Und nein, es waren keine Schatten, auch keine Einbildungen.
„Warum versuchen wir nicht zusammen etwas dagegen zu tun?“
Jamie lachte leise. „Wie kommst du darauf, dass ich das möchte?“
Ich sah mich um, aber immer, wenn man mal jemanden sehen möchte, ist niemand in der Nähe. Meine Güte, wie können auf einem verdammten Schiff keine Leute in der Nähe sein?
„Es wäre doch schön, wenn wir gesund auf Java ankämen.“ Ich wünschte, ich könnte behaupten, etwas Besseres gesagt zu haben. Habe ich aber nicht.
Jamie lacht wieder, während er sich aufrichtet und die Arme ausbreitet. „Wir sind genau da, wo wir sein müssen.“
Mein Gott, ich konnte jetzt überall unter seiner Kleidung Bewegung sehen, die dort nicht hingehörte. Wellen liefen seine Arme und Beine und seinen Körper rauf und runter. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte lauter. Lauter und kehliger. Bald klang es, als würde er Glaskugeln gurgeln. Immernoch lachend, sieht er mich direkt an. Mit weit offenem Mund. So weit offenem Mund. Ich sehe keine Zähne, keine Zunge. Nur ein tiefes schwarzes Loch, das unmöglich tief war und unter dem Lachen hörte ich es wieder. „Ihr auch, ihr auch, ihr auch, ihr auch.“
Ich keuchte auf, stolperte zurück gegen die Reling und ging zu Boden. Jamie, oder was immer Jamie jetzt war, stieß ein letztes kurzes, scharfes Lachen aus und ging in die Dunkelheit.
Nach einer Weile rappelte ich mich auf und ging in unser Quartier. Auf dem Weg traf ich, selbstverständlich, Robin und raunte ihr zu: „Und ich habe doch recht.“
„Geh dich ausruhen“, sagte sie und klopfte mir auf die Schulter.